Marthasheim bietet Mädchen wenig Schutz gegen „rassenhygienische Leitlinien“

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1. Juni 1944
Osterstraße 20/21, Bremen-Neustadt

Das Marthasheim wurde 1873 mit der finanziellen Hilfe Emmy Kulenkampffs in der Osterstraße 21 eingerichtet. Aus dem Verein für Innere Mission, dem Bremer Ortsverein Freundinnen junger Mädchen und der Mägdeherberge Marthasheim ging die Bahnhofsmission hervor. Bereits wenige Monate nach deren Gründung wurde eine hauptamtliche „Berufsarbeiterin“ eingestellt, die sich auf dem Bahnhof aufhielt, um den ankommenden Mädchen und jungen Frauen ihre Hilfe anzubieten. Plakate in den Zugabteilen der 3. und 4. Klasse wiesen bei der Anreise nach Bremen auf die Bahnhofsmission hin.
Den Frauen der Bahnhofsmission ging es zuerst um den Schutz junger Frauen, die als Dienstmädchen eine Arbeitsstelle  in der Stadt suchten. Den jungen Mädchen sollte „Geleit“ auf dem Weg zu ihren Herrschaften gegeben werden. Bis die Mädchen ihre Arbeit antreten konnten, gaben ihnen die „Freundinnen“ Herberge im Marthasheim. Siehe hierzu das Bild (freundlicherweise von der Inneren Mission und dem Temmen Verlag zur Verfügung gestellt) der Schwesternschaft des Marthasheim. In der Bildmitte ist mit Hut die Bahnhofsmissionarin Grabow zu erkennen.

Alleinreisende junge Mädchen sollten vor Heiratsschwindlern und insbesondere im Kampf gegen den internationalen Mädchenhandel vor der „Verfrachtung“ in Bordelle nach Übersee geschützt werden. Die Frauen der Bahnhofsmission nahmen sich auch der allein reisenden Frauen und Mütter an, die nach Bremen kamen, um von hier aus in die USA auszuwandern. Emmy Kulenkampff leitete die Einrichtung und kümmerte sich um die Instandhaltung des Hauses.
Im Marthasheim wurden auch Dienstmädchen ausgebildet. „Die Lehrlinge sollen in der Regel zwischen dem 14. und 17. Lebensjahre nach einer Probezeit von sechs Wochen aufgenommen werden; ältere und gereiftere Mädchen finden nur ausnahmsweise als Schülerinnen Einlass; alle müssen gute Zeugnisse über Fleiß und Betragen und über ihre körperliche und geistige Befähigung zum Dienstbotenberufe beibringen. Die Lehrzeit ist auf ein Jahr bemessen, kann aber auch darüber hinaus erstreckt werden. An Kostgeld wird jährlich 120 RM in vierteljährlichen Raten bezahlt. Die Schülerinnen werden in allen Haushaltungs- und Mägdearbeiten, namentlich einfacher Küche, Kinderpflege, Waschen und Plätten, Scheuern und Reinmachen, Weißnähen, Flicken und Stricken u. dergl. unterwiesen. Außerdem in biblischer Geschichte, im Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen. Die Anstalt ist zunächst auf 30 Schülerinnen eingerichtet. Der Stab besteht aus der Hausmutter, einer besonders wichtigen, in diesem Falle einer besonders glücklich gewählten Persönlichkeit, sechs Lehrschwestern und ein oder zwei aus der Volksschulsphäre zur Hilfe genommenen für die Fortsetzung des Elementarunterrichts. Das in der Neustadt gelegene Local bietet den Vorteil eines geräumigen Gartens und der Möglichkeit einer Erweiterung.“ (1)
Die Bewohnerin besuchten gemeinsam die Kirche und gestalteten ihre Freizeit. Die Mitarbeiterinnen und der Vorstand kümmerten sich um Arbeitsstellen für die Ausgebildeten.
Ab 1920 war dort ein Mädchenfürsorgeheim untergebracht. 1924 war dort die der Evangelische Gefährdetenfürsorge und ab 1926 der Evangelische Fürsorgedienst für Frauen und Mädchen
angesiedelt.

Ab 1933 wurde es hauptsächlich als Heim für Mädchen, die das Jugendamt als gefährdete einstufte, betrieben. Der Evangelische Fürsorgedienst übernahm 1936 die Jugendgerichtshilfe für evangelische weibliche Jugendliche und  damit auch Aufgaben, die sich aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ergaben. Sogenannte „sexuell auffällige Mädchen“ wurden in auswärtige Heime verlegt, allein 1938 waren es 28.

Ein Beispiel für diese „rassenhygienischen Maßnahmen“ ist das Schicksal von Maria Franz. Drei weitere Frauen wurden wegen ihres nicht-systemkonformen Verhaltens aus dem Heim in die Bremer Nervenklinik verlegt. Nach ihrer Weiterverlegung von dort starben sie schließlich in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde.

Ab 1942 wurden die Mädchen in das Isenbergheim verlegt und im Marthasheim wurden ausgebombte Arbeiterinnen und „alte Schützlinge“ untergebracht. 1944 wurde das Marthasheim durch einen Bombentreffer zerstört, 1945 in einer Baracke wieder eröffnet und schließlich in der Neustadt aufgegeben.

Verfasserin: Edith Laudowicz (Veröffentlicht im Buch „FrauenGeschichte(n) – Biografien und FrauenOrte aus Bremen und Bremerhaven“, Edition Falkenberg) mit aktuellen Ergänzungen der Spurensuche-Redaktion

zu 1) „Zur Ausbildung von Dienstmädchen im Marthasheim“, Nordwest 1878, 1. Jg. Nr. 5 S. 51 f, Mathilde Lammers
„Die Ziele des Vereins Marthasheim Bremen“, gegr. 1873, StaB 4,14/1-VI.E.11
„Frauen unter Kontrolle: Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik“, Hamburg 2003, Michaela Freund-Widder
StAB 2-T.6.p.2.M.13. Enthält u.a. Ausschnitt aus den Bremer Nachrichten vom 17.11.1934 über die Geschichte des Hauses Osterstraße 21 (Marthasheim)
„Bremer Jugendhilfe und Jugendfürsorge in der NS-Zeit“, Bremen 2016, Gerda Engelbracht, Andrea Hauser
StaB Akte3 V.2. – Nr. 846 ,,betr. den Verein Marthasheim in Bremen“, 21. Nov. 1911

Bildmaterial: beide Bilder des Marthasheim sowie der Schwesternschaft wurden freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch den Temmen Verlag und die Innere Mission.

Veröffentlicht am und aktualisiert am 16. Juni 2020

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