Juden in Sebaldsbrück: geflüchtet, angekommen, abgeschoben – ermordet

Coorßenhof_Sebaldsbr.Heerstr. 55
Coorsen Hof_Sebaldsbrueck
27. Oktober 1938
Sebaldsbrücker Heerstr. 55, Bremen-Sebaldsbrück

Ende des 19. Jahrhunderts setzte eine Ausreisewelle der jüdischen Bevölkerung aus Polen nach Deutschland und von dort nach Übersee, insbesondere nach den USA und später nach Süd- und Mittelamerika, ein. Grund waren die in Polen erlebten Pogrome und die damalige Wirtschaftskrise. Ein Teil von ihnen blieb in Bremen. Entweder, weil sie hier Verwandte oder Arbeit gefunden hatten oder weil sie nicht für eine Weiterreise in die USA in Betracht kamen. Viele von ihnen ließen sich in Sebaldsbrück und Hastedt nieder. Meist waren sie tätig im Wäschegeschäft, im Handel mit Altmaterial, Textilien oder Säcken.

Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten die ostjüdischen Menschen eine orthodox ausgerichtete Gemeinde mit dem Namen „Beith Hamidrasch Schomre Schabbos“ (Haus der Sabbat-Hüter). Ihre Betstube richtete sie in der Sebaldsbrücker Heerstr. 55 ein. Besitzer des Grundstücks war der Zigarrenhändler Adolf Coorßen, später seine Witwe Meta Coorßen. Das Haus hatte sogar zwei Beträume, in denen sich Männer und Frauen getrennt aufhalten konnten. Es gab keinen eigenen Rabbiner.

Die Beziehung der Gemeinde zur alteingesessenen Israelitischen Gemeinde in Bremen war locker. Gemeinsam unterhielten sie eine Religionsschule für Kinder, eine Mikwe, den „Schechita“ (koscheres Schlachten) und den Friedhof in Hastedt, Alter Postweg.
Das Verhältnis dieser sog. Ost-Juden zur bereits existierenden jüdischen Gemeinde in Bremen muss als ambivalent angesehen werden. Während viele der hier bereits ansässig gewordenen Juden sich in ihrer Kleidung, Sprache und Verhalten am deutschen Bürgertum orientierten, sprachen die Ost-Juden meist jiddisch und folgten einer orthodoxen Ausrichtung ihres Glaubens. Äußerlich zeigte sich das in der typischen Kleidung sowie Haar- und Bartfrisur. Häufig wurde geringschätzend auf die ärmlicheren Ost-Juden herabgesehen. Andererseits unterstützten bürgerliche jüdische Kreise durchaus die Ost-Juden, z. B. durch die Gründung einer Zweigstelle des „Hilfsvereins der deutschen Juden, Abteilung Bremen“.

Das Betshaus in Sebaldsbrück wurde während der Reichspogromnacht vom 9. – 10. November 1938 von der SA vernichtet. Nur wenige Tage vorher, nämlich vom 27. – 28. Oktober 1938 waren die meisten Mitglieder der „Schomre Schabbos“-Gemeinde als Staatenlose verhaftet und deportiert worden. Als angesichts der zunehmenden Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung viele Juden mit einem polnischen Pass aus Deutschland nach Polen flüchten wollten, hat die polnische Regierung dies durch bürokratische Maßnahmen verhindert. Die Folge war, dass viele Ost-Juden zu Staatenlosen wurden und somit von der nationalsozialistischen deutschen Ausländerbehörde leicht ausgewiesen werden konnten. Tatsächlich sind von Nazi-Deutschland in jenen Tagen ca. 17.000 Menschen nach Polen ausgewiesen worden. Darunter befanden sich u. a. Frau Hudes Londner, geb. Borenstein  und Frau Zylla Sina, beide aus der Sebaldsbrücker Heerstr. 29. Ebenso die Familien Traum und Treff, die dort wohnten, wo sich ihr Gebetshaus in der Sebaldsbrücker Heerstr. 55 befand (Stolpersteine).

Noch bevor sie deportiert wurden, entwendeten ihnen die Deutschen die mitgeführten Wertgegenstände und ihr Geld. Polen verweigerte die Aufnahme dieser Staatenlosen, verschloss ihnen ihre Grenze und somit blieben sie im Niemandsland. Dort zelteten sie auf freiem Feld. Nicht mal ein Jahr später marschierte die deutsche Wehrmacht über dieses Gebiet in Polen ein. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. In der Folge wurden sowohl polnische wie jüdische Menschen durch deutsche Kommandos systematisch verfolgt und ermordet

Quelle: Materialsammlung zur Geschichte der ostjüdischen Gemeinde in Sebaldsbrück „Geflüchtet, angekommen, unerwünscht, abgeschoben, ermordet“ vom Geschichtskreis Sebaldsbrück. Erschienen in Oktober 2018

Veröffentlicht am und aktualisiert am 24. Oktober 2020

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