Ein wi­der­stän­di­sches Le­ben: Ger­trud Stae­wen

Unser Lieben Frauen 2015
1. Sep­tem­ber 1939
El­sas­ser­str. 1, Schwach­hau­sen-Bre­men

Wi­der­stän­dig war Ger­trud Stae­wen (1894 – 1987) ihr gan­zes Le­ben lang: zu­erst ge­gen den au­to­ri­tä­ren Va­ter, dann ge­gen den Hoch­mut bür­ger­li­cher Krei­se ge­gen­über dem Pro­le­ta­ri­at, spä­ter ge­gen den to­ta­li­tä­ren An­spruch des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und nach 1945 ge­gen die Ver­teu­fe­lung von Straf­ge­fan­ge­nen. Nach kur­zer Ehe und Schei­dung kam sie mit zwei Kin­dern le­bens­lang  ge­ra­de so über die Run­den. Be­stän­dig war in ih­rem Le­ben nur die Jahr­zehn­te wäh­ren­de Freund­schaft mit dem Theo­lo­gen Karl Barth (1886 – 1968) und sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin Char­lot­te von Kirsch­baum (1899 – 1975) so­wie mit dem Ber­lin-Dah­le­mer Pas­tor Hel­mut Goll­wit­zer (1908 – 1993).

Ger­trud Stae­wen ent­stamm­te der Bre­mer Fa­mi­lie Or­de­mann. Ihr Va­ter Jo­hann An­ton Or­de­mann (1867 – 1926) war Kauf­mann, ihre Mut­ter Han­na Rohr (1827 – 1910) Toch­ter ei­nes Schwei­zer Pfar­rers. Ihre jün­ge­re Schwes­ter Hil­da (1897 – 1979) hei­ra­te­te 1926 den Ju­ris­ten und spä­te­ren drit­ten Prä­si­den­ten der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Gus­tav Hei­nemann (1899 – 1976), Prä­ses der Syn­ode der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land von 1949 bis 1955.

Ger­trud Or­de­mann wur­de in der Kir­che Un­ser Lie­ben Frau­en durch den da­ma­li­gen Pas­tor Reinhard Groscurth kon­fir­miert. Er er­kann­te ihr päd­ago­gi­sches Ta­lent und för­der­te ihre Hin­wen­dung zu jun­gen Men­schen. Be­reits als Ju­gend­li­che half sie im Kin­der­gar­ten und im Kin­der­got­tes­dienst der Ge­mein­de. Wäh­rend ihre an­pas­sungs­fä­hi­ge­re Schwes­ter Hil­da Ab­itur ma­chen und stu­die­ren durf­te, muss­te die un­an­ge­pass­te Ger­trud auf An­ord­nung ih­res stren­gen Va­ters mit dem Re­al­schul­ab­schluss die Schu­le ver­las­sen und ein Jahr lang in ei­nem schwei­ze­ri­schen Pen­sio­nat für hö­he­re Töch­ter Fran­zö­sisch ler­nen. Nach ih­rer Rück­kehr nach Bre­men ar­bei­te­te sie in ei­nem evan­ge­li­schen Kin­der­hort. Auf­grund der Für­spra­che von Pas­tor Rein­hard Gros­curth (1866 – 1948) konn­te sie in Ber­lin eine so­zi­al­päd­ago­gi­sche  Aus­bil­dung be­gin­nen, von der sie be­geis­tert war und die sie 1920 als Ju­gend­lei­te­rin ab­schloss. Da­mit wa­ren Wei­chen ge­stellt: Ber­lin wur­de ihre neue Hei­mat.

Ein Prak­ti­kum in ei­nem Kin­der­ta­ges­heim in der Reichs­haupt­stadt brach­te sie in Be­rüh­rung mit pro­le­ta­ri­schen Fa­mi­li­en. Spar­ta­kus-Auf­stand, Wei­ma­rer Re­pu­blik – 1926 trat sie in die SPD ein -, auf der Su­che nach neu­en Ide­en und Le­bens­for­men nach dem ver­lo­re­nen Ers­ten Welt­krieg lern­te sie die re­li­giö­sen So­zia­lis­ten ken­nen. Nach dem Krieg kehr­te sie zu­nächst nach Bre­men zu­rück und grün­de­te mit ei­ner Freun­din ein so­zi­al­pä­dago­gi­sches Se­mi­nar für die Aus­bil­dung jun­ger Frau­en.

Nach der Schei­dung von ih­rem Mann Wer­ner Stae­wen (1892 – 1960) ver­such­te sie, sich und ihre bei­den Kin­der in Ber­lin mit schrift­stel­le­ri­scher Ar­beit über Was­ser zu hal­ten. Ihr The­ma war die Le­bens­si­tua­ti­on der pro­le­ta­ri­schen Ju­gend. Ihre bei­den Bü­cher zu die­sem The­men­kreis, 1933 und 1939 er­schie­nen, wur­den so­fort nach Er­schei­nen ver­bo­ten. Sie hat­te das wah­re Ge­sicht des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus er­kannt, las schon früh Hit­lers „Mein Kampf“ und war be­son­ders um ihre jü­di­schen Freun­de be­sorgt. Ab Ende 1935 ar­bei­te­te sie in der Ver­sand­ab­tei­lung des Burck­hardthau­ses in Ber­lin-Dah­lem, wur­de dort Mit­glied der evan­ge­li­schen Ge­mein­de mit dem Pas­tor Hel­mut Goll­wit­zer und schloss sich der Be­ken­nen­den Kir­che an.

Sie be­tei­lig­te sich an der wach­sen­den Ar­beit vor al­lem der Frau­en der Ge­mein­de für NS-Ver­folg­te, zu­neh­mend für Ju­den. Sie über­nahm die Seel­sor­ge für die Stern­trä­ger im Ein­zugs­be­reich der Dah­le­mer Ge­mein­de, be­such­te jene, von de­nen sie er­fah­ren hat­te, dass ihre De­por­ta­ti­on kurz be­vor stand, half mit Geld und Klei­dung. Es wur­den Päck­chen in die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ge­schickt, von man­chen In­haf­tier­ten ka­men noch Ant­wort­brie­fe. Un­ter­stüt­zung muss­te il­le­gal or­ga­ni­siert wer­den. Das stürz­te die ge­set­zes­treue Hel­fe­rin aus Bre­men in Ge­wis­sens­kon­flik­te. Mit­un­ter fühl­te sie sich ent­kräf­tet und hilf­los.

Ger­trud Stae­wens um­fang­rei­che Kor­re­spon­denz aus der NS-Zeit – vor al­lem an die Schwei­zer Freun­de um Karl Barth –  ent­hält Ver­schlüs­se­lun­gen und Ab­kür­zun­gen, da sie da­mit rech­ne­te, dass die Post ge­öff­net wur­de. Sie ver­stärk­te ne­ben al­lem An­de­ren ihre Ar­beit für die Ge­mein­de, hielt Bi­bel­stun­den, mach­te Haus­be­su­che. Wäh­rend et­li­che Gleich­ge­sinn­te aus der Ge­mein­de ver­haf­tet wur­den, blieb sie un­be­hel­ligt. Im Som­mer 1943 ver­ließ sie Ber­lin und reis­te nach Wei­mar zu ih­rer Toch­ter Re­na­te.

Ab 1946 ar­bei­te­te sie er­neut in Ber­lin an der neu ge­grün­de­ten kirch­li­chen Zeit­schrift Unterwegs mit. 1948 hol­te sie der Te­ge­ler Ge­fäng­nis­seel­sor­ger Ha­rald Po­el­chau als kirch­li­che Für­sor­ge­rin in die Män­ner­haft­an­stalt Ber­lin-Te­gel. Dort wirk­te sie bis zu ih­rem Ru­he­stand 1962, be­kannt und be­liebt als Engel der Gefangenen. Sie ge­hör­te zu den ers­ten Mit­glie­dern des Ku­ra­to­ri­ums der 1949 ge­grün­de­ten Ge­sell­schaft für Christ­lich-Jü­di­sche Zu­sam­men­ar­beit in Ber­lin. 1958 nahm der Ber­li­ner Se­nat sie in sei­ne Lis­te der Unbesungenen Helden auf. Ger­trud Stae­wen liegt auf dem St. An­nen-Fried­hof  in Dah­lem ne­ben der 68er-Iko­ne Rudi Dutsch­ke be­gra­ben.

Quellen:
Mar­got Käß­mann (Hrsg.) „Gott will Ta­ten se­hen – Christ­li­cher Wi­der­stand ge­gen Hit­ler“, Ver­lag C. H. Beck Mün­chen 2013;
Mar­lies Flesch-The­be­si­us „Zu den Au­ßen­sei­tern ge­stellt – Die Ge­schich­te der Ger­trud Stae­wen 1894 – 1987“, Wi­chern-Ver­lag Ber­lin 2004;
Ger­trud Stae­wen-Or­de­mann „Men­schen der Un­ord­nung“, Band 3 der „Stu­di­en zur Re­li­gi­ons­so­zio­lo­gie“, Fur­che-Ver­lag – heu­te Lu­ther Ver­lag – Ber­lin 1933

 

Veröffentlicht am und aktualisiert am 31. Mai 2021

Kom­men­tie­ren Sie den Bei­trag

Ihre E-Mail-Adres­se wird nicht ver­öf­fent­licht. Er­for­der­li­che Fel­der sind mar­kiert *

*

Zeitauswahl
  • 1933
  • 35
  • 37
  • 39
  • 41
  • 43
  • 1945
1940 - 1944
19401944
Themen
  • Arbeitslager
  • Ereignis
  • Jugend
  • Nazi-Organisation
  • Person
  • Verfolgung
  • Widerstand
  • Alle Kategorien aktivieren
Stadtteil