Der Mord an Heinrich Rosenblum

9. November 1938
Thedinghauser Straße 46, Bremen

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 unternimmt die SA in Deutschland eine angebliche Vergeltungsaktion wegen der Ermordung des Gesandtschaftsrats vom Rath durch einen Juden in Paris. In ganz Bremen werden Fensterscheiben zertrümmert, die Wohnungen und Geschäfte von Juden verwüstet und die Synagoge in der Gartenstraße (die Straße heißt heute „Kolpingstraße“) in Brand gesetzt.
Juden werden festgenommen und in Sammellager verfrachtet, um sie später in Konzentrationslager zu bringen. Insgesamt fünf jüdische Bürger*innen werden ermordet. Einer davon ist Heinrich Rosenblum, der in der Thedinghauser Straße ein Altwarengeschäft führt. Seine Mörder sind die Brüder Wilhelm und Ernst Behring. Die Brüder werden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gegen 2 Uhr in ihren Häusern in der Yorckstraße und in der Rossbachstraße geweckt. Umgehend begeben sie sich zum Haus des Johann-Gossel-Sturms am Buntentorsteinweg 95. Sie ziehen ihre SA-Uniformen an und bekommen dort den Auftrag von ihrem Sturmführer, zum Haus der Familie Rosenblum zu gehen und Heinrich Rosenblum zu erschießen. (1)
Die Brüder brauchen für den Weg dorthin ungefähr eine Viertelstunde. Auf dem Weg herrscht Stille, niemand spricht auch nur ein Wort. Nur einmal sagt Ernst: „Ein verflucht harter Befehl!“, worauf Wilhelm antwortet: „Befehl ist Befehl.“ Als sie am Haus der Rosenblums ankommen, klopft Wilhelm an ein Fenster, das zu ebener Erde gelegen ist und in dem sich das Schlafzimmer der Rosenblums befindet. Nach ein paar Minuten wird die Tür von Heinrich Rosenblum geöffnet. Wilhelm Behring sagt zu Rosenblum: „Sie wissen, was in Paris passiert ist, machen Sie sich fertig, sie sind verhaftet.“ (2) Wilhelm fordert Rosenblum auf, seinen Ausweis vorzuzeigen, obwohl er ihm persönlich bekannt ist. Er zeigt ihnen seine Papiere. Als er sich wieder umdreht, um seinen Ausweis wegzulegen, zieht Wilhelm Behring seine Pistole aus der Tasche und schießt Rosenblum eine Kugel in den Hinterkopf. „Ich ging in das Zimmer hinein, stand neben dem Tisch und erschoss Rosenblum, als er sich umdrehte, um seine Papiere zu suchen.“ (3)
Sie gehen zum Johann-Gossel-Haus zurück und melden, dass sie den Befehl ausgeführt haben. Einen Tag später werden die Frau Heinrich Rosenblums, Ernestine, und die beiden jüngsten Kinder ins KZ Sachsenhausen gebracht. Später werden sie nach Minsk deportiert, wo alle umgebracht werden.

Heinrich Rosenblum wurde 1892 in Galizien geboren. Seit 1892 lebte er in Bremen. Von 1914-1918 nahm er am 1. Weltkrieg teil, zuletzt als Sanitätsoffizier bei einem Infanterieregiment. Er wurde verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. 1918 wurde ihm für besondere Verdienste vom Senat das Bremische Hanseatenkreuz verliehen. 1920 heiratet er Ernestine Felczer. Im Jahre 1924 kaufte er das Gelände in der Thedinghauser Straße 46 und richtete hier eine Eisen- und Metallgroßhandlung ein.

Die Mörder Wilhelm (geb. 1904) und Ernst (geb. 1909) Behring traten 1930 in die NSDAP ein, ein Jahr später in die SA. Wilhelm übernahm 1937 die väterliche Bäckerei und wurde deswegen erst 1945 zur Wehrmacht eingezogen. Ernst trat 1939 in den Polizeidienst ein. 1943 kam er zum Wachzug nach Flensburg und wurde später in einem Polizei-Bataillon in Ungarn eingesetzt. Erst 1947 wird den Brüdern in Bremen wegen des Mordes an Heinrich Rosenblum der Prozess gemacht. Der Staatsanwalt fordert lebenslänglich wegen Mordes. Obwohl die Angeklagten geständig sind, erhält Wilhelm Behring nur eine Zuchthausstrafe von 8 Jahren und Ernst eine Zuchthausstrafe von 6 Jahren. Das Gericht erkennt auf Totschlag. Die Richter finden, die Tat sei zwar vorsätzlich, aber eben nicht mit Überlegung ausgeführt worden. Ein Widerspruch? Nicht für die Richter. Sie folgen in ihrer Argumentation weitgehend der Verteidigung.

Die Erziehung in der SA und der ihnen anerzogene Gehorsam habe die Brüder dazu geführt, den Mord zu begehen. Der Befehl habe die Brüder so sehr erschüttert, dass er zu einer „inneren Erstarrung“ geführt habe. Der seelische Konflikt zwischen ihrem Gewissen und der anerzogenen SA-Gehorsamspflicht habe zu einer Blockierung ihres freien Entschlusses geführt. Die „kurze Zeitspanne“- immerhin ca. eine Viertelstunde – zwischen Befehl und Tatausführung sei zu kurz gewesen, um „auch nur einigermaßen die seelische Gleichgewichtslage wiederherzustellen.“ (4)
Die Brüder Behring hätten in einem Konflikt zwischen ihrem Gewissen und der Pflicht eines SA-Mannes gestanden, ihrem geleisteten Eid treu zu bleiben. Erst nach „innerem Sträuben“ hätten sie die Tat begangen. (5) Das Gericht schließt sich in seiner Urteilsbegründung weitgehend den Darlegungen der Verteidigung und des ärztlichen Gutachters an.

Unter der Überschrift „Ein Urteil verlangt Revision“ spricht der Weser Kurier am 7. Mai 1947 von einem Fehlurteil und beurteilt die Richter als Juristen, deren „ nationalsozialistische Vergangenheit vermutlich ihren Blick trübt für die geschichtlichen und politischen Zusammenhänge“ und schreibt von „einem die Nazis ermunternden Urteil.“ Die Zeitung fordert, endlich frischen Wind in die bremische Justiz zu bringen und erinnert an die Vergangenheit des Strafkammer-Vorsitzenden Dr. Oster: „ Ein ehemaliger Heimatkriegsgerichtsrat, seit 1937 Mitglied der NSDAP, ist doch wohl kaum dazu berufen, in einem Pogrom-Prozess den Vorsitz zu führen.“ Kritisch sieht der Weser Kurier auch das Gutachten des Sachverständigen Becker-Glauch, der den Angeklagten eine „Bewusstseinsstörung“ attestiert hatte. „Auffallend ist auch, wie in letzter Zeit die Sachverständigen mit ihren Gutachten eingriffen.“
In einem gemeinsamen Aufruf fordern die SPD, KPD und Gewerkschaften Bremens nicht nur eine Aufhebung des Urteils, sondern eine Demokratisierung der deutschen Gerichte mit dem Ziel, alle Nazi-Richter aus der Justiz zu entfernen. Am 7. Mai 1947 legen Arbeiter und Angestellte im gesamten Stadtgebiet für 5 Minuten ihre Arbeit nieder, um gegen das Urteil zu demonstrieren. Annähernd 50 000 Menschen sollen an dieser Protest-Aktion teilgenommen haben. Am nächsten Tag versammeln sich Tausende von Menschen auf dem Marktplatz, um nochmals gegen die Richter und das Urteil zu demonstrieren.

Auf Revision der Staatsanwaltschaft hebt das Oberlandesgericht das Urteil am 18. September 1947 auf. Die neue Verhandlung findet vor dem Schwurgericht statt, an dem jetzt wieder Laienrichter mitwirken. Am 16. September 1948 werden die Brüder zu 8 und 12 Jahren Zuchthaus verurteilt – wieder wegen Totschlags, da Mordmerkmale nicht vorlägen. Der Protest bleibt diesmal aus. 1951 werden die Brüder Behring von Senat begnadigt. (6)

Quellen:

  1. Staatsarchiv Bremen,4, 89/“- Hauptverfahren in Strafsachen, aus der Anklageschrift des Oberstaatsanwalts vom 23. Februar 1945, 2 JSs 1635/45
  2. und 3. Staatsarchiv Bremen, 4, 89/2- Hauptverfahren in Strafsachen, Zusammenfassung der Vernehmung von W. Behring durch Oberstaatsanwalt Bollinger
  3. und 5. Staatsarchiv Bremen, 4, 89/2-Hauptverfahren in Strafsachen, aus der Urteilsbegründung vom 2. Mai
  4. Barfuß/ Müller/ Tilgner (Hg.): Geschichte der Freien Hansestadt Bremen 1945-2005, Bd. 1, S.87

Das beiliegende Video gibt Auskunft zu den Ereignissen in der sog. „Reichskristallnacht“ am 9.11.1938 in Bremen. Dieses Video wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Landesfilmarchiv, Bremen.

Veröffentlicht am und aktualisiert am 29. November 2022

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