Vom „Hauptschuldigen“ zum „Nichtbetroffenen“ – Die Entnazifizierung des Kriminalsekretärs Wilhelm Mündtrath

Wilhelm-Mündtrath_Staatsarchiv-Bremen
17. Oktober 1945
Friedrich-Ebert-Str. 193, Bremen-Neustadt

Die Akte zum Entnazifizierungsverfahren von Kriminalsekretär Wilhelm Mündtrath ist, neben dem Ermittlungsverfahren auf Grund der Anzeige von Julius Dickel, der wichtigste Quellenbestand zur NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Bremen.

Mündtrath wurde 17. Oktober 1945 auf Grund seiner Tätigkeit als Leiter der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ aus der Kriminalpolizei entlassen. Er übernahm die nächsten zwei Jahre die Leitung eines amerikanischen Offiziersclubs in Osterholz-Scharmbeck. Hier wohnte zudem die Familie seiner Ehefrau. Im Dezember 1947 wurde er wegen „Flucht- und Verdunkelungsgefahr“ in Haft genommen. Ihm wurde vorgeworfen, „Kriminalbeamter der Geheimen Staatspolizei Bremen“ und „wesentlich beteiligt an der Verschickung der Zigeuner sowie an der Sterilisation dieser Andersrassigen“ gewesen zu sein. Als Haftort diente zunächst einer der beiden Bunker in der Parkallee. Später wurde er in den „Riespott“ überführt. Mündtrath wurde als „Hauptschuldiger“ betrachtet.

Diese Einstufung fand sich dann auch in der Klageschrift vom 22. Oktober 1948 wieder. Der „Öffentliche Kläger“ (vergleichbar mit einem Staatsanwalt) beim Senator für politische Befreiung warf ihm vor, Sinti und Roma zur Zwangssterilisation gezwungen zu haben und im März 1943 einen der drei Deportationstransporte von Sinti und Roma vom Bremer Schlachthof aus in das „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau geleitet zu haben. „Der Betroffene [so wurden die ‚Angeklagten‘ in dem Entnazifizierungsverfahren genannt]“ habe sich, so hieß es in der Klageschrift weiter, „an Verschleppungen aktiv beteiligt und seine Stellung zu Zwang und Drohung ausgenützt und eine gehässige Haltung gegenüber Menschen, die vom Nationalsozialismus als minderwertig angesehen wurden, eingenommen“. Deshalb sei er als „Hauptschuldiger“ und als „Belasteter“ einzustufen.

Während der umfangreichen Vernehmungen kam es im Januar 1947 zu einem Zwischenfall. Mündtrath wurde einem der Opfer gegenübergestellt, Albert Stein, der die NS-Zeit überlebt, aber sehr viele seiner Familienangehörigen verloren hatte. „Bei Rede und Gegenrede der beteiligten beiden Personen“, sei Albert Stein plötzlich aufgesprungen und habe „dem Betroffenen [damit ist Mündtrath gemeint] auf die linke Wange eine Ohrfeige“ versetzt. Nachdem „beruhigend“ auf Albert Stein „eingewirkt“ worden sei, habe die Vernehmung fortgeführt werden können.

Am 5. Januar 1949 wurde Mündtrath in der Spruchkammerverhandlung als „Minderbelasteter“ eingestuft. Als erwiesen sah die Spruchkammer im Wesentlichen an, dass Mündtrath die Zwangssterilisationen mit Drohungen durchgesetzt habe. Seine sonstigen Tätigkeiten als Leiter der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ wurden nicht als verstärkende Belastung angesehen, auch nicht, dass er sowohl an den Deportationen der Sinti und Roma beteiligt war als auch nicht, dass er einen Transport selber geleitet hatte.

Gemäß des Spruchs wäre Mündtrath nach einem Jahr „Bewährungsfrist“ als „Mitläufer“ zurückgestuft worden.

Dennoch gingen sowohl der Öffentliche Kläger als auch Mündtrath in die Berufung, über die am 5. Mai 1949 entschieden wurde. An diesem Tag entschied die Berufungskammer, dass Mündtrath zu amnestieren sei. Nach Ansicht der Berufungskammer müsse angenommen werden, „dass der Betroffene selbst nicht das Bewusstsein haben konnte, welche Folgen die Ausführung der Befehle für die Zigeuner haben würde.“ Er habe die Sinti und Roma „nach Auschwitz in Ausübung eines dienstlichen Befehls [gebracht], ohne Wissen oder nur glauben zu können, dass diesen Befehlen eine unmenschliche Absicht zu Grunde lag.“

Die Einstellung des Verfahrens gemäß Art. 3 A 3 b bedeutete, dass Mündtrath eigentlich als „Mitläufer“ galt, da er aber bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschritten hatte, wurde er amnestiert und zukünftig als „Nichtbetroffener“ (im Sinne vom „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“/Entnazifizierung nicht betroffen) geführt.

Am 16. Oktober 1951 wurde Wilhelm Mündtrath wieder bei der Bremer Kriminalpolizei eingestellt und 1958 pensioniert.

Dr. Hans Hesse

Literatur:

Hesse, Hans, Wilhelm Mündtrath – Kriminalsekretär des Bremer “Zigeunerdezernats”, in: Danckwortt, Barbara/Querg, Thorsten/Schöningh, Claudia (Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen-Täter-Opfer. Mit einer Einleitung von Wolfgang Wippermann, Hamburg 1995, S. 246–272.
Hesse, Hans, „Ich bitte, die verantwortlichen Personen für ihre unmenschlichen barbarischen Taten zur Rechenschaft zu ziehen“ – Die Deportation der Sinti und Roma am 8. März 1943 aus Nordwestdeutschland, Bremen 2022, S. 35–38.
Hesse, Hans, „Konstruktionen der Unschuld. Die Entnazifizierung am Beispiel Bremen und Bremerhaven 1945–1953“, Bremen 2005.

Online: Hesse, Hans, „Der zweite Himmler“ (https://wkgeschichte.weser-kurier.de/der-zweite-himmler/)

Quellen: Staatsarchiv Bremen 4, 66 – I. Mündtrath, Wilhelm, 7743 und 7744 (Entnazifizierungsverfahren)

 

Veröffentlicht am und aktualisiert am 28. April 2023

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